2014, Einführungsrede von Wilhelm Großmann

Verführung!?
Einleitung zur Ausstellung mit Werken von Monika Kaiblinger und Bernhard von Braun
Galerie edcamos, München, 18. Juli 2014

Sehr geehrte Freunde, verehrte Damen und Herren,

Das Bild mit dem Titel „Dumm gelaufen" von Monika Kaiblinger erscheint mir als eine Schlüsselarbeit für das von ihr und vom Galeristen gewählte Motto „Verführung". Gestatten Sie deshalb, dass ich in meiner Einleitung zu dieser Ausstellung ohne Umschweife auf diese Arbeit näher eingehe:

Eine adrett gekleidete, junge, mädchenhafte Krankenschwester schaut uns lächelnd an, mit einem Ausdruck voller Unschuld und Reinheit. Ihre Arme hat sie hinter ihrem Rücken verschränkt, sie ist -um im aktuellen Jargon dieser Tage zu bleiben- durch und durch „tiefenentspannt".

Ihre Erscheinung erfüllt alle Klischees zu dem Personal ihrer aufopfernden Profession: Weißer Teint, akkurat sitzende hellblaue Bluse, darüber ein blütenweißes Kleid. Zwischen den über die Knie gezogenen, weißen Strümpfen und dem hoch gelegenen Ansatz des Kleides erscheint die nackte Haut ihrer Oberschenkel. Nur das starke Rot ihrer Lippen und der ihre Taille eng umschließende tiefschwarze Gürtel durchbrechen das Harmonische ihrer Erscheinung. Die dramatische, bizarre Szenerie, welche sich hinter ihrem Rücken abspielt, scheint sie nicht im Geringsten zu berühren. Im Gegenteil: Sie erscheint davon völlig entrückt, während mehrere Krokodile, von Hunger getrieben, choreographisch angeordnet die Szenerie durchqueren. Das größte Ungeheuer direkt hinter ihr beschäftigt sich derweil damit, einen Mann vom Kopf an zu verspeisen. Seltsam: es fließt kein Blut. Keine Spuren von Kampf und Gewalt.

Die eigentliche Verbindung des Mädchens mit den Krokodilen wird im Bild nicht erzählt. Und dennoch existiert diese Beziehung außerhalb des Gezeigten in tieferen Schichten. Kennen wir vielleicht die wahre Geschichte aus einer ganz anderen Erzählung? Und gibt es gar eine geheime Komplizenschaft dieses eiskalten Engels mit den wilden Tieren? Hören diese auf Befehle des Mädchens? „Schafft mir diesen Kerl vom Leibe!" Der schwarze Gürtel ist immerhin ein Insignum für den höchsten Grad von Meisterschaft in traditionellen japanischen Kampfsportarten.
Oder ist das Mädchen vielleicht gar nicht da, bilde ich mir das nur ein, handelt es sich um eine Projektion aus meinem Unterbewußtsein? Durch den gelben Schein um die Figur des Mädchens erhält dieses plötzlich den selben Umriss, wie das gefräßige Krokodil zu ihren Füßen. Sind die beiden gar ein und dasselbe Wesen, welches es vermag, cameleonartig seine Erscheinung zu verändern ?
Eines wird mir klar: Das Mädchen besitzt die unglaubliche Fähigkeit, sich ständig in einen anderen Aggregatzustand oder ein anderes Wesen zu transformieren. Das Vermögen, sich situativ zu verwandeln ist sicherlich Wesensteil seiner verführerischen Strategie.

Dann gehen wir doch darauf ein, sage ich mir, spielen wir das Spiel weiter, schließen kurz unsere Augen und springen in eine andere Szene des Films:

Das gleiche Mädchen betritt nun eine große Bühne eines Theaters. Ein einziger Lichtkegel umkreist seine Bewegungen. Das Mädchen trägt diesmal ihr hellblondes Haar offen, ein weißes Abendkleid umhüllt eng seinen Körper. Das Publikum ist im Dunkeln nur schemenhaft zu erkennen. Die Stimmung im Saal ist ausgelassen. Es umgreift fest mit beiden Händen das Mikrofon und haucht aus der Tiefe seiner Lunge einen ergreifend vibrierenden Gesang: „Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday Mr. President, happy birthday to you."

Das Thema „Frau und Krokodil" ist ein schockierender Topos in der jüngenen Kunstgeschichte und taucht immer wieder in neuen Varianten auf. So hat der Fotograph Helmut Newton aus Anlass einer Dokumentation zu Pina Bauschs Tanzstück „Die Keuschheitslegende" 1983 einen ganzen Zyklus mit diesem Motiv geschaffen. Bei Newton verschlingt ein täuschend lebendig und echt aussehendes Krokodil natürlich eine Frau. Aus dem weit aufgerissenen Maul des Tieres ragt nur noch ihr nackter Unterkörper heraus. Beide, Krokodil und Frau, erscheinen in einem surrealen Zustand einer libidinösen Verschmelzung. Newton sagte dazu nur: „Ich war natürlich ganz versessen darauf, das Krokodil zu fotographieren, und ich versuchte, Pina Bausch davon zu überzeugen, dass das Krokodil auch nichts anderes sei als einer der Darsteller, und dass es so wäre, als porträtierte ich diesen Darsteller, genauso wie ich die anderen Mitglieder der Truppe portraitiert hatte."

Eine weitaus nähere Verwandtschaft der Arbeit von Monika Kaiblinger ist aber zum Oeuvrre des amerikanischen Künstlers Richard Prince auszumachen. Nicht nur, weil Prince durch seine „Nurse Paintings" weltberühmt wurde und von beiden das Sujet der Krankenschwester zitiert wird. Es ist vielmehr die frappierend ähnliche Arbeitsweise, die darin besteht, Ikonographien der Werbung, der Popkultur, des Films und der Musik zu zitieren und diese in einen neuen Kontext zu stellen.

Prince versteht seine Methode als eine Art Sampling, so wie es in der Musikproduktion angewandt wird, indem bestehende Werke, welche sich bereits fest in unseren Erinnerungen eingefressen haben, zum festen Repertoire unseres kollektiven Gedächtnisses geworden sind, kopiert und so bearbeitet werden, dass sie einen neuen, kritischen Sinnzusammenhang erhalten. Bei Kaiblinger sind es Frauenikonen aus Oper, Film und aus der jüngsten Musikgeschichte.

Ihre portraitierten Protagonistinnen heißen Amy („We are Amy") oder Maria („Marias Eyes"), schlicht Mimi (aus Puccinis Oper La Bohème) oder Irma da Douce.(aus dem gleichnamigen Film). Was die großen Heldinnen in Roman und Oper des 18. und 19. Jahrhundert betrifft, wissen wir, dass sie ihr Privileg, Titel- und Bühnenheldin zu sein mit ihrem Tode bezahlen müssen. So will es das jeweilige Libretto und die vorherrschende bürgerliche Moral. Auf der Bühne müssen sie sterben, auf dass die auf der Bühne verbliebenen Männer wunderbare Arien singen dürfen, worin sie ihren Verlust und das ihnen widerfahrene Leiden eindrucksvoll darbieten können. Der Feminismus hat diese perfide Logik aufgedeckt und Figuren wie Mimi sind infolge dessen plötzlich zu Ikonographien feministischer Kunstkritik geworden. Von ihrer zwanghaften Bestimmung befreit verwandelt Kaiblinger diese Frauenfiguren zu Subjekten, die souverän über ihr eigenes Handeln bestimmen weil sie die Spielregeln der Verführung beherrschen.

In dem Zyklus Bad Girls gibt es ein Bild mit einem anwesenden Mann: Er kniet vor Greta Garbo, die mit verschränkten Armen und abweisendem Blick in die Ferne schaut -oder in die Augen des Betrachters. "I want to be alone" ist der Titel des Bildes. Wie auch immer: Das verführerische Duell findet sowieso nicht mit einzelnen Männern statt, sondern direkt mit dem jeweiligen Publikum, welches in den Bann gezogen wird. Keine der Frauen spielt und repräsentiert irgend eine Rolle aus dem Skript eines Stückes. Jede ist sich selbst,

und wir, die Betrachter befinden uns plötzlich in einer intimen Begegnung mit dem Star, ganz persönlich. Hinzu kommt: Die Art und Weise, wie Kaiblinger die Farben auf die Leinwand aufträgt, bringt die Bilder und deren gesellschaftlichen Inhalt förmlich zum Tanzen, sie vibrieren wie in einem Tanz der Farben oder einem farbigen Tanz. Musik, Tanz und Film scheinen die wichtigsten Inspirationsquellen von Monika Kaiblinger zu sein.

Unser Galerist Walter Zettl hat als Motto dieser Ausstellung mit Werken von Monika Kaiblinger die „Verführung" gewählt. Er hat dazu diesen großen, von Geheimnissen umwobenen Begriff sowohl mit einem Zeichen des unbedingten Ausrufs als auch mit einem dicken Fragezeichen versehen. Dies tat er sicher nicht aus Unentschlossenheit.

Denn im Kern spiegelt sich darin der innere Antagonismus wider, welcher die universelle Daseinsform der Verführung ausmacht. Der französische Philosoph Jean Baudrillard hat in den achtziger Jahren den Versuch unternommen eine Philosophie der Verführung theoretisch zu begründen, indem er dem vorherrschenden christlichen Konzept der Liebe die bis dahin als heidnisch gebrandmarkte Verführung entgegenstellte und gar deren Überlegenheit behauptete. (Jean Baudrillard, Lasst euch nicht verführen!, Berlin 1983).

Noch in der Antike wird die menschliche Entwicklung mit dem Antagonismus zwischen den Elementen , Lebewesen und Göttern begründet, wodurch auch die Möglichkeit zum Spiel und zur gegenseitigen Verführung eröffnet wird. Die Götter bekriegen und verführen sich gegenseitig. Keine Liebesduselei, keine Versöhnung weit und breit.

Indem das Christentum die Liebe zum Schöpfungsprinzip erklärte, wurde diesem großen Spiel ein Ende bereitet. In und durch die Liebe scheint von nun an alles lösbar. Die Liebe stellt eine Art unübertreffbare Antwort auf alle Fragen dar. Sie verkörpert die Hoffnung auf eine Welt von idealen Gemeinschaftsbeziehungen: Hass trennt, Liebe vereint und versöhnt.

Und dennoch bleibt eine Begriffsbeschreibung der Liebe seltsam schwammig. Klar ist: Die Liebe existiert. Das ist alles. Sie ist subjektiv,

zuweilen bleibt sie unbeantwortet und existiert in mir auch ohne Gegenliebe. Dann ist das mein Problem.

Anders die Verführung: Sie ist eine Herausforderung, ein Duell mit einer rätselhaften werbenden, starken Anziehung und gleichzeitig von einer geheimnisvollen Distanz geprägt, ein ständiger Antagonismus. Die Verführung hat einen dualen Charakter: Ich kann nur verführen, wenn ich schon verführt bin, und niemand kann mich verführen, ohne selbst schon verführt zu sein. Ich kann nicht ohne den anderen spielen. Das ist die Spielregel.

Verführung ist Widerstand, Kampf und ständige Selbstbehauptung. Die Verführung ist nicht zu greifen. Sie wehrt sich gegen jede Unterordnung, nicht nur zwischen Personen. Auch gegenüber Staat und Gesellschaft, welche alles in mir ausforschen und durchleuchten wollen. Sie Ist ein Spiel mit der Wirklichkeit der Illusion, hinter der sich keine Wahrheit mehr verbirgt. Denn nur das Geheimnis kann verführen. Und das Geheimnis fungiert nicht als verborgener Sinn, den es zu enthüllen gilt. Eine enthüllte, entzauberte Wahrheit hätte nichts mehr verführerisches an sich. Darin liegt die Attraktivität und die Widerstandskraft des dunklen Phänomens der Verführung.

Bei Monika Kaiblingers Bildern blitzen diese Elemente der Verführung immer wieder auf und ziehen uns in den Bann der dargestellten Frauen und der Geschichten ihrer Leidenschaften. Die Magie dieser Bilder lässt uns nicht mehr los.

Wilhelm Großmann © 2014